Gibt es «Die Geschichte des Piercings»?
Ja – und sie ist erstaunlich alt und vielfältig. Piercings gehören zu den ältesten bekannten Formen der Körpermodifikation weltweit. Sie lassen sich über viele Jahrtausende und nahezu alle Kontinente hinweg nachweisen.
Während Piercings heute oft als modisches Statement oder Lifestyle-Accessoire gelten, hatten sie historisch meist tief verwurzelte spirituelle, soziale oder rituelle Bedeutungen.
Im Folgenden erhältst du einen Einblick in die Entwicklung des Piercings – von der Steinzeit bis zur Gegenwart:
Piercings in frühen Kulturen – bereits um 7000 v. Chr.
Piercings in der Steinzeit – Ein besonders faszinierender Beleg für die lange Geschichte des Piercings ist der „Mann aus dem Eis“, besser bekannt als Ötzi. Die über 5.000 Jahre alte Gletschermumie wurde 1991 in den Ötztaler Alpen gefunden und gibt Forschenden bis heute wertvolle Einblicke in das Leben der Jungsteinzeit.
Neben Tätowierungen weist Ötzi auch deutlich gestretchte Ohrläppchen auf – mit einem Durchmesser von etwa 7 bis 11 Millimetern. Das spricht dafür, dass Ear-Stretching bereits in der Steinzeit praktiziert wurde.
Ob diese Modifikation kulturelle, spirituelle oder funktionale Gründe hatte, ist nicht abschliessend geklärt. Doch sie zeigt: Körpermodifikationen wie Piercings existierten lange vor den Hochkulturen Ägyptens, Indiens oder Mesopotamiens.
Weitere frühe Piercing-Kulturen
Auch in anderen frühen Gesellschaften spielten Piercings eine bedeutende Rolle:
- Nordafrika: Erste Ohrschmuck-Funde um 7000 v. Chr.
- Ägypten: Ohr- und Bauchnabelpiercings sowie Ear-Stretching als königliche Statussymbole.
- Römisches Reich: Brustwarzenpiercings bei Soldaten (Symbolik umstritten, aber belegt).
- Maya & Azteken: Lippen-, Ohren- und Zungenpiercings mit ritueller Bedeutung.
- Indien: Nasenpiercings seit Jahrtausenden – kulturell, spirituell und gesellschaftlich verwurzelt.
- Afrikanische Stämme: Piercings als Teil von Übergangsritualen, Stammeszugehörigkeit oder Schönheitsidealen.
- Nordamerika & Südostasien: Rituelle Durchbohrungen – etwa beim Sun Dance (First Nations) oder beim Vegetarian Festival in Thailand.
Symbolische Bedeutung von Piercings
In vielen frühen Kulturen waren Piercings mehr als nur Körperschmuck. Sie erfüllten spezifische Rollen innerhalb des sozialen, spirituellen oder kulturellen Lebens:
- Übergangsrituale: z. B. vom Jugend- ins Erwachsenenalter.
- Spirituelle Bedeutung: Götterverehrung, Opfer, Schutzsymbole.
- Soziale Ordnung: Zugehörigkeit zu bestimmten Rollen, Klassen oder Gruppen.
Piercings waren also Botschaften am Körper – individuell und kollektiv gedeutet.
Die moderne Entwicklung: Wendepunkt 1975
Ein Meilenstein der modernen Piercing-Geschichte war das Jahr 1975, als Jim Ward in Los Angeles das erste professionelle Piercingstudio eröffnete: „The Gauntlet“.
Dort wurde erstmals:
- industriell gefertigter Piercingschmuck verwendet.
- moderne Hygienekonzepte und sterile Arbeitsweisen standardisiert.
- das Piercen als eigenständige Dienstleistung etabliert.
Jim Ward gilt als Pionier der modernen Piercing-Kultur. Ergänzend dazu:
- Horst Streckenbach, alias „Tattoo Samy“, war eine Schlüsselfigur der frühen Bodymod-Szene in Deutschland.
- Manfred Kohrs entwickelte erste Ideen für das Barbell-Design, welches Jim Ward weiterführte und heute als Standard gilt.
Vom Subkultur-Phänomen zum globalen Trend
In den 1980er- und 1990er-Jahren verbreitete sich Piercing stark über Subkulturen wie Punk, Gothic und BDSM. Von dort fand es seinen Weg in den Mainstream – unterstützt durch Musik, Mode, Popkultur und die Tattoo-Szene.
Heute ist Piercing:
- ästhetisch anerkannt
- in vielen gesellschaftlichen Kontexten normalisiert
- und Teil einer breit etablierten Körperkultur
Globale Präsenz
Piercing ist heute eine weltweit verbreitete Form der Körperkunst. Schätzungen zufolge tragen 15–20 % der Weltbevölkerung mindestens ein Piercing – vom klassischen Ohrloch bis hin zu Intim- oder Surface-Piercings.
Heutige Piercings tragen vielfältige Bedeutungen – darunter:
- Selbstausdruck & Identität
- Zugehörigkeit zu Szenen oder Lebensstilen
- Bewusster Bezug auf kulturelles oder spirituelles Erbe
Die Geschichte des Piercings ist eine faszinierende Reise durch Jahrtausende. Ob als spirituelles Zeichen, soziales Symbol oder bewusst gewähltes Statement – Piercings stehen seit jeher für Zugehörigkeit, Identität und persönliche Freiheit. Sie verbinden Vergangenheit und Gegenwart auf eindrucksvolle Weise. Eine Tradition, die lebt.