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Miki Vialetto: Ein Visionär der Tattoo-Welt – Exklusives Interview

Publiziert: 06.01.2025, 14:15
„Mit Tattoos erzählt man Geschichten – sie sind ein Spiegel der Seele und ein Ausdruck von Stärke.“ Dieser Gedanke beschreibt Miki Vialetto perfekt. Als Visionär der Tattoo-Welt hat er nicht nur Events wie die London Tattoo Convention geprägt, sondern auch die Branche weltweit inspiriert.

In der Tattoo-Szene gibt es nur wenige Namen, die so einflussreich und prägend sind wie Miki Vialetto. Als Gründer der legendären London Tattoo Convention – der wohl renommiertesten und aus Künstlerperspektive am meisten respektierten Tattoo-Veranstaltung weltweit – hat er Geschichte geschrieben. Doch Miki ist weit mehr als nur ein Event-Pionier: Als Publisher und Editorial Director von Tattoo Life, einem der angesehensten Magazine der Branche, prägt er die Tattoo-Kultur auf globaler Ebene.

Mit unermüdlicher Hingabe und einer tiefen Leidenschaft für die Kunst des Tätowierens hat Miki nicht nur dazu beigetragen, Tätowierungen als anerkannte Kunstform zu etablieren, sondern auch die weltweite Tattoo-Community miteinander verbunden und inspiriert.

Doch wie begann seine Reise? Was hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Tattoo-Welt zum Positiven – und auch zum Negativen – verändert?

Im exklusiven Interview mit tattoo.ch gewährt Miki Vialetto faszinierende Einblicke in seine Anfänge, teilt seine Perspektive auf den heutigen Markt und spricht über seine Vision für die Zukunft der Branche:

Die Anfänge

Hi Miki, wie begann deine Reise in der Tattoo-Welt und was hat dich ursprünglich dazu inspiriert, in diese Branche einzusteigen?

Miki: Meine Liebe zu Tattoos begann, als ich etwa 13 Jahre alt war. Damals habe ich meinen Vater oft gebeten, mir Pin-up-Girls oder Totenköpfe auf die Haut zu malen. Mein Lieblingsspielzeug war Dr. Steel, der Gegenspieler von Big Jim, weil er einen grossen Drachen auf der Brust tätowiert hatte.

Mit 17 Jahren liess ich mich zum ersten Mal tätowieren – bei Gian Maurizio Fercioni in Mailand, dem „Godfather“ des italienischen Tattooing. Der Moment, als ich sein Studio betrat, war magisch. Ich war sofort fasziniert von der geheimnisvollen Welt, die sich mir dort offenbarte. Danach liess ich mir viele weitere Tattoos stechen und verbrachte jeden freien Samstag in seinem Studio, um den Geschichten zu lauschen, welche er seinen Kunden erzählte.

1993, im Alter von 22 Jahren, arbeitete ich mit einem Mailänder Verlag zusammen, der ein kostenloses Magazin namens IN TOWN herausbrachte. Es drehte sich um Clubs und Diskotheken, enthielt aber hin und wieder vier Seiten über Body Art. Eines Tages fragte ich, ob sie an Artikeln über Biker und Tattoos interessiert wären. Eigentlich wollte ich mir nur etwas Spritgeld für Bikertreffen dazuverdienen. Doch ihnen gefielen meine Texte und so schlug ich vor, gleich ein eigenes Tattoo-Magazin zu starten.

Damals gab es in Europa nichts Vergleichbares und um an amerikanische Tattoo-Magazine zu kommen, musste ich bis in die Schweiz reisen. 1993 veröffentlichten wir schliesslich Tattoo Revue – das erste europäische Tattoo-Magazin. Zwei Jahre später waren wir in ganz Europa in fünf Sprachen vertreten und expandierten in die USA unter dem Namen Tattoo Planet.

Nach sieben Jahren war für mich der Moment gekommen, meinen eigenen Weg zu gehen. Im Jahr 2000 gründete ich meine eigene Verlagsfirma und startete Tattoo Life. Dieses Jahr feiern wir den 25. Jahrestag meines Engagements im Tattoo-Publishing – ein Meilenstein, auf den ich sehr stolz bin.

Wie ist die Idee zur London Tattoo Convention entstanden und vor welchen Herausforderungen standest du bei der Umsetzung?

Miki: Bevor ich die London Tattoo Convention ins Leben rief, war ich zehn Jahre lang künstlerischer Leiter der Mailand Tattoo Convention. Doch irgendwann wollte ich ein Projekt, das ich zu 100 % selbst gestalten konnte, um meine eigene Vision uneingeschränkt umzusetzen. Gemeinsam mit meinem Geschäftspartner Marcus Berrimann entschieden wir, dass London die wohl bedeutendste Stadt Europas für ein solches Event sei – und so wurde die London Tattoo Convention ins Leben gerufen.

Mein Ziel war es, jedem einzelnen Besucher zu zeigen, auf welch hohem Niveau das weltweite Tattooing steht – und das nicht nur durch die Tattoos selbst, sondern auch durch die vielfältigen Kunstformen, die von Tattoo-Künstler/innen geschaffen werden.

Obwohl heute die Gods of Ink Convention in Frankfurt den Platz der London Tattoo Convention eingenommen hat, bleibt die Erinnerung an die „echte“ London Tattoo Convention für Tausende von Tätowierer/innen und Tattoo-Liebhaber/innen unvergesslich.

Ich habe die London Tattoo Convention aus zwei zentralen Gründen beendet: Erstens, verstarb mein guter Freund und Geschäftspartner Marcus Berrimann, was einen tiefen Einschnitt bedeutete. Zweitens, wurde es nach zwei Jahren der Covid-Pandemie äusserst schwierig, die Organisation der Veranstaltung in ihrer ursprünglichen Form fortzusetzen.

Veränderungen in der Tattoo-Branche

Welche positiven Entwicklungen hast du über die Jahrzehnte in der Tattoo-Szene beobachtet?

Miki: Eine der grössten positiven Entwicklungen ist sicherlich, dass immer mehr talentierte Künstler/innen den Weg in die Tattoo-Branche finden. Das technische und künstlerische Niveau ist heute unglaublich hoch – nicht zuletzt dank der Fortschritte bei professionellem Tattoo-Equipment. Bis etwa 2005 war es üblich, dass Tätowierer/innen ihre Maschinen selbst zusammenbauten. Heute arbeiten Ingenieurteams in den Supply-Firmen kontinuierlich an innovativen Lösungen – ein Fortschritt, welcher die Branche nachhaltig geprägt hat.

Gibt es Entwicklungen, die du eher kritisch siehst?

Miki: Leider war die Tattoo-Welt noch nie so stark von Unwahrheiten geprägt wie heute. In den sozialen Medien wird viel mit Photoshop, Filtern und Retuschen gearbeitet, sodass es für Laien oft schwer ist, die echte Qualität eines Tattoos zu erkennen.

Zudem achten viele jüngere Tätowierer/innen bei der Gestaltung weniger darauf, wie das Tattoo in fünf oder zehn Jahren aussehen wird. Der Fokus liegt häufig allein darauf, wie es auf Social Media wirkt und ankommt.

Ein weiterer kritischer Punkt ist das zunehmende egozentrische Verhalten mancher Tätowierer/innen.Don Ed Hardy schrieb in den 70er-Jahren auf seine Visitenkarte: „Wear your dreams“, was die Idee widerspiegelte, Tattoos als Ausdruck der Träume und Wünsche der Kunden zu gestalten. Heute könnte es bei vielen heissen: „Wear my ego“, da der Fokus oft mehr auf die Selbstdarstellung der Künstler/innen gerichtet ist, statt auf die persönlichen Geschichten oder Bedürfnisse der Kunden.

Ein Thema, das mich immer wieder schockiert, ist der Einsatz von Anästhesie. Es ist eine Sache, anästhesierende Cremes zu verwenden, aber mittlerweile wünschen sich manche Menschen sogar lokale Betäubungen oder gar Vollnarkosen für ihre Tattoos. Für mich ist das völlig absurd und widerspricht der ursprünglichen Essenz des Tätowierens.

Welche Rolle spielen Tattoo-Conventions heute angesichts der Digitalisierung und der sozialen Medien?

Miki: Soziale Medien sind fantastisch, um ein Event wie die Gods of Ink zu bewerben und Live-Eindrücke in Echtzeit zu teilen. Genau deshalb veröffentliche ich in meinem Magazin auch keine klassischen Nachberichte von Conventions mehr. Später über ein Event zu berichten, das die Leute online schon längst live verfolgt haben, macht für mich einfach keinen Sinn.

Tradition und Innovation

Warum ist es dir ein Anliegen, traditionelle Techniken wie Irezumi oder Tatau zu bewahren?

Miki: Die Technologie eröffnet uns grossartige Möglichkeiten, wie etwa digitale Zeichnungen oder kunstvolle Kreationen mit digitalen Werkzeugen. Doch nichts kann die Schönheit eines Originalgemäldes ersetzen, das mit Pinsel und Ölfarbe geschaffen wurde. Ähnlich verhält es sich mit traditionellen Tattoo-Techniken: Sie erzeugen ein völlig anderes Ergebnis als moderne Maschinen. Sie sind das „echte Ding“ und stehen für eine authentische Liebe zu diesen Kulturen und ihrem historischen Erbe.

Inwiefern haben moderne Technologien (z.B. neue Tätowiermaschinen oder Inks) die Tattoo-Kunst verändert und was sind für dich die grössten Fortschritte?

Miki: Vor dem Aufkommen der Cheyenne-Maschinen war der Umgang mit Coil-Maschinen eine echte Herausforderung. Es erforderte ein tiefes Fachwissen, um die Maschinen richtig einzustellen und dabei die Haut weder zu verletzen noch Narben zu verursachen.

Cheyenne revolutionierte die Branche, indem sie als erste Firma Ingenieur/innen einsetzten, um eine Maschine zu entwickeln, die so benutzerfreundlich war, dass sie theoretisch sogar von einem Kind bedient werden konnte, ohne die Haut zu schädigen. Diese Innovation veränderte alles – plötzlich strömten Abertausende Neueinsteiger in die Branche – viele von ihnen durchliefen nicht mehr den traditionellen Weg des Tätowierens, sondern erlernten die Kunst mithilfe von Apps und Tutorials im Internet.

Das ist vergleichbar mit der Musik: Früher war es eine viel grössere Herausforderung, Gitarre zu lernen. Dank Apps und Tutorials ist es heute jedoch einfacher denn je, den Einstieg zu meistern.

Die Zukunft der Tattoo-Szene

Findest du, Tattoos seien heute zu sehr kommerzialisiert, oder ist das ein natürlicher Teil ihrer Entwicklung?

Miki: Die ganze Welt ist kommerzieller geworden und das spiegelt sich auch in der Tattoo-Branche wider. Ich erinnere mich an die Worte von Tattoo Berit aus Berlin, einer fantastischen Künstlerin mit einem unverwechselbaren Stil, die ich 1996 hörte. Sie sagte sinngemäss: „Wenn du als unbekannte/r Maler/in arbeitest, verkaufst du deine Werke meist an Menschen, die sich mit Kunst auskennen – und das macht es unglaublich schwierig, davon zu leben. Beim Tätowieren ist es anders: Deine Kund/innen sind oft keine Kunstexperten. Selbst wenn das Tattoo nicht revolutionär ist, sind sie begeistert und du kannst damit einfacher deinen Lebensunterhalt verdienen.“

Heute sehe ich im Fitnessstudio oder am Strand gefühlt 90 Prozent Tattoos, die technisch nicht gerade gut sind – und das trotz der enormen Zahl an talentierten Tätowierer/innen. Doch die Menge an schlechten Tattoos ist um ein Vielfaches höher.

Vor 30 Jahren ging es nur wenigen darum, ernsthaft Geld mit Tattoos zu verdienen. Heutzutage sind viele in der Branche tätig, die selbst wenig mit Tattoos verbindet – Hauptsache, es bringt Profit.

Welche Entwicklungen würdest du dir für die Zukunft der Tattoo-Kunst wünschen?

Miki: Ich wünsche mir mehr Ethik – auf allen Ebenen. Sei es der Verzicht darauf, Teenagern das Gesicht zu tätowieren, oder ein bewussterer Umgang mit bearbeiteten Bildern auf Social Media. Weniger Filter, mehr Echtheit – das wäre wirklich schön.

Was braucht es deiner Meinung nach, um im heutigen globalen Tattoo-Markt wirklich herauszustechen?

Miki: Technisch gesehen hat das Niveau heute ein beeindruckendes Level erreicht, doch vieles wirkt leider eintönig. Viele kopieren einfach die Arbeiten anderer Künstler/innen. Mich beeindruckt es viel mehr, wenn jemand nach dem Erlernen der Technik wirklich etwas Eigenes erschafft, anstatt nur zu reproduzieren. Inspiration zu finden und diesen Input auf eine ganz persönliche Weise umzusetzen – nur so entsteht etwas wirklich Originelles.

Persönliche Einblicke

Was bedeuten Tattoos für dich persönlich? Hast du ein Tattoo mit einer ganz besonderen Geschichte?

Miki: Für mich haben Tattoos immer etwas mit Stärke zu tun. Mein ganzer Körper ist tätowiert – mit Ausnahme von Gesicht, Händen und Genitalien. Jedes Motiv, ob klein oder gross, trägt eine besondere Bedeutung. Vom winzigsten Detail bis hin zu den zusammenhängenden Kunstwerken, die meinen gesamten Rücken und meine Beine schmücken, erzählt jedes Tattoo eine Geschichte. Ich habe mir immer genau überlegt, welche Botschaft ein Tattoo transportieren soll und wie das Design gestaltet sein muss, um dieser gerecht zu werden.

Was war der stolzeste Moment deiner Karriere?

Miki: Ganz sicher der Moment, als mich Felix Leu, der Vater von Filip Leu, zu Beginn meiner Laufbahn unter seine Fittiche nahm. Er hat mir nahezu alles beigebracht, was ich über Tattoos und die damit verbundene Ethik weiss – ich verdanke ihm unendlich viel. Es war die härteste Schule meines Lebens, doch seine Lehren waren von unschätzbarem Wert.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich ihm im Jahr 2000 mein erstes Tattoo-Buch Flash – The Art of the Mark zeigte. Sein Stolz auf mich war spürbar und das erfüllte mich wiederum mit grossem Stolz und tiefer Freude.

Wenn du auf deinen gesamten Werdegang zurückblickst: Gibt es etwas, das du anders gemacht hättest?

Miki: Nicht wirklich. Ich bin heute genau da, wo ich sein möchte, weil ich meinen Weg genauso gegangen bin, wie ich es getan habe – ohne Reue.

Welche Pläne hast du für die Zukunft?

Miki: Ich möchte weiterhin Menschen aufklären und die „wahre“ Tattoo-Welt fördern, auch wenn das immer schwieriger wird. Heute setzen sich oft Leute auf den „Lehrstuhl“, die selbst kaum etwas wissen. Ich bin der Meinung: Bevor man andere unterrichtet, sollte man selbst lange und intensiv gelernt haben.

Ausserdem fällt mir auf, dass viele Tattoo-Conventions oder Seminare von Menschen organisiert werden, die kaum über echtes Hintergrundwissen verfügen. Anstatt andere zu lehren, sollten sie sich lieber selbst weiterbilden. Aber wir leben in einer Zeit, in der es oft reicht, einfach zu behaupten: „Ich bin gut, ich weiss alles.“ Und leider glauben viele das auch.

Ein kleiner Trost ist für mich ein Satz, den ich in den 90er-Jahren von Tin-Tin gelernt habe: „Am Ende bekommt jeder das Tattoo, das er verdient.“

Vielen Dank für das inspirierende Gespräch, Miki!

Wir danken Miki Vialetto herzlich für seine offenen Worte und die spannenden Einblicke in seine Arbeit und die Tattoo-Welt. Wer mehr über seine Projekte und Visionen erfahren möchte, sollte unbedingt einen Blick in Tattoo Life werfen und die kommenden Events wie Gods of Ink nicht verpassen.

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